Das österreichische Zuckerkartell

Die Zuckerindustrie war in der österreichisch-ungarischen Monarchie ein sehr wichtiger und exportorientierter Wirtschaftszweig. Um die Preise für den Binnenmarkt stabil und für die Produzenten profitabel zu halten, wurde ein umfassendes Zuckerkartell gegründet. Ab 1903 finden sich dazu ausführliche Berichte im Compass.

Zu den regulären Compass-Bänden gab es auch, in unregelmäßigen Abständen und zu verschiedenen Themen, ausgewählte Sonderdrucke. So auch ein "Jahrbuch der österreichischen Zucker-Industrie - Separatdruck aus dem Jahrbuch der österreichischen Industrie" aus dem Jahr 1912. Darin wurden alle für die Zuckerindustrie bedeutsamen Abschnitte und Kapitel aus dem (Industrie-) Compass Band II des gleichen Jahres separat in einem kleinen Jahrbuch abgedruckt.

 

Die darin veröffentlichten Artikel "Geschichte des Zuckercartells", "Die Brüsseler Konvention" und "Banken in Kommissionsverbindung mit Zuckerfabriken" waren dementsprechend im gleichen Jahr auch im Compass Band II bereits erschienen.

 

Kommentar von Werner Kohl:

Wie schon aus den ersten Eintragungen aus obigem Jahrbuch ersichtlich, stützte sich dieses Kartell auf 3 Säulen:

  1. Auf die Kartellvereinbarung selbst.
  2. Auf die Kontrolle der Banken (siehe oben), die bei allfälligem Ausscheren aus den Vertriebsvereinbarungen Verluste erlitten hätten.
  3. Auf die gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten in den jeweiligen Zuckerfabriken, wobei seinerzeit Verwaltungsrat und Direktionen sich firmenübergreifend kontrollierten. Die unten angeführten Beispiele kann der Leser beim Studium der jeweiligen Compass-Eintragungen ganz leicht selbst nachverfolgen.

Erstaunlich ist, dass diese Konstruktion trotzdem nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat, weil trotz der gesellschaftsrechtlichen – und heute unvorstellbaren – Verflechtungen das gegenseitige Misstrauen sehr groß war. Hinzu kam die mit weit mehr als 150 Zuckerfabriken und Zuckerraffinerien unüberschau- und in Wahrheit unkontrollierbare Anzahl der Beteiligten. Eine weitere Zäsur war der verlorene Erste Weltkrieg, der den Zerfall der Monarchie mit sich brachte.

In der Zwischenkriegszeit gab es ähnliche, aber bei Weitem nicht so dramatische Konstruktionen.

In der NS-Zeit waren die Zuckerhersteller von Staats wegen in grenzüberschreitende Konstrukte des Reichs-Nährstandes zusammengefasst. Sie unterlagen strengen Kontrollen und bekamen die zu verarbeitenden Rohstoffe zugeteilt.

Heute ist die Agrana Zucker GmbH mit zwei Fabriken – einer in Tulln und einer in Leopoldsdorf im Marchfelde – der einzige österreichische Zuckerproduzent.

Nachzulesen in „Die österreichische Zuckerindustrie und ihre Geschichte(n) 1750 – 2013“, erschienen im Böhlau Verlag, 2014, Hrsg. Werner Kohl und Susanna Steiger-Moser, ISBN 978-3-205-79498-1.

 

Werner Kohl

Wien, im Oktober 2014

 

In Tschechien gab es noch bis weit ins 20. Jahrhundert ein bekanntes Zuckerkartell. Dieses bestand bis in die Zeit der Herrschaft des nationalsozialistischen Deutschland in Tschechien. Im Jahr 1940 übernahm im Protektorat Böhmen und Mähren der „Böhmisch-Mährische Verband für Rüben und Zucker“ die Funktionen des Zuckerkartells, wie der Compass von 1944 berichtet.  

Quelle: Compass. Finanzielles Jahrbuch 1944. Böhmen und Mähren, Slowakei. 77. Jg. Prag, Wien: Compassverlag 1944. S. 753-754.

Nach 1945 gibt es für die Zuckerindustrie kein öffentliches, geschweige denn offizielles Auftreten einer Kartellorganisation mehr, die sich im Compass-Bestand niederschlägt.

In der Nachkriegszeit wurde der Begriff immer stärker negativ besetzt und die entsprechenden Organisationsformen und Absprachen zwischen Unternehmen stehen durch das geltende Kartellrecht mittlerweile unter Strafe.

Nichtsdestotrotz berichtet die österreichische Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) über ein "Zuckerkartell", welches laut ihrer Auskunft von 2004 bis 2008 Bestand hatte.

Quelle BWB/K-191 Zuckerkartell vom 03.11.2014

Auch große Printmedien, wie zum Beispiel Die Welt, Süddeutsche Zeitung und Die Zeit wissen selbst im Jahr 2014 noch über Zuckerkartelle im deutschsprachigen Raum zu berichten.

Aktuelle Nachrichten wie diese machen die Erforschung wirtschaftlicher und politischer Verflechtungen in der Vergangenheit umso spannender, sowie für die heutige Zeit brisanter und lehrreicher. Besonders auch, weil sich viele wirtschaftliche und politische Organisationsformen in weiter zurückliegenden Zeiten viel offener und direkter präsentierten, als dies in späteren Zeiten der Fall war und ist. Um diesen Sachverhalt zu bestätigen, genügt ein Blick auf die sehr detaillierte Berichterstattung über die Zuckerindustrie und das damit einhergehende Zuckerkartell während der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie im Compass-Bestand.

Verfasst von:

Werner Kohl

Autor diverser Fachpublikationen zur Wirtschaftsgeschichte, Schwerpunkt Industrie und Chemie

Herausgeber & Autor „Die Österreichische Zuckerindustrie und ihre Geschichte(n) 1750-2012“

 
Mag. Christian Benesch

Betreuung des Compass-Archivs und von ZEDHIA im Compass-Verlag

Diplomstudium Geschichte an der Universität Wien